Obwohl Migration seit einigen Jahren in Europa ein Topthema ist, gibt es noch immer Fragestellungen, auf die bis jetzt äußerst sporadisch oder gar nicht eingegangen wurde. Es gibt obendrein zahlreiche Tabus. Ein solches Tabu betrifft auf jeden Fall das Thema der Toleranz, der Weltoffenheit, des Nationalismus etc. in migrantischen Kreisen und bei ethnischen Minderheiten.

Die Frage der Migration wird in Österreich beachtenswert kritisch, aber äußerst einseitig diskutiert. Es gibt kaum Forschung, geschweige denn eine breitere öffentliche Diskussion, in der zum Beispiel ein Konflikt, der sich zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund ereignet, ausgewogen analysiert und dargestellt würde. Obwohl allen bewusst ist, dass eine solche Kontroverse mindestens zwei Parteien voraussetzt.

Natürlich gibt es auch Extremfälle, oft genug ist jedoch zu beobachten, dass Konflikte (etwa rassistischer oder religiöser Art) aufgrund geringer Toleranz und starker auf beiden Seiten vorhandener Vorurteile eskalieren. Oder es ist bis dato irgendwo ein Thema, dass zum Beispiel unter den Migranten (sie unterscheiden sich natürlich stark nach Herkunftsland, dem Einwanderungsalter und der Aufenthaltsdauer) aus Ost- und Südosteuropa der Toleranzpegel (im Vergleich zu Westeuropa) relativ niedrig und der Hang zum Nationalismus vergleichsweise hoch ist? Man spricht schon seit Jahren sehr mutig und besorgt zum Beispiel über das Ausmaß des in Ungarn existierenden Nationalismus und Antisemitismus, doch selten denkt man mit ähnlichem Einsatz darüber nach, wie es sich mit solchen Denk- und Handlungsmustern bei jenen verhält, die von dort auswandern bzw. auswanderten.

Es ist also im Großen und Ganzen ein Tabu, dass auch in der migrantischen Bevölkerung sozial und historisch begründete Vorurteile vorhanden sind, die gravierende Konflikte oder soziale Distanzierungen verursachen können.

Natürlich wäre es wünschenswert, die Diskussion um die Toleranz so schnell wie möglich jenseits des Migrantischen ansiedeln zu können. Doch solch ein, in Anknüpfung an Erol Yildiz, als "postmigrantisch" zu bezeichnendes Stadium der Gesellschaft scheint im Moment illusorisch zu sein. Im Spannungsfeld zwischen Migrantischem und Nicht-Migrantischem sowie in einer Gesellschaft, die der politischen Korrektheit verpflichtet ist, dürfte daher eine einfache, den alten Spruch des " Kehrens vor der eigenen Tür" aufgreifende Vorgehensweise eine noch am ehesten funktionierende Alternative bieten. Die Zeit wäre nun reif, etwas mehr innenperspektivische Forschung und kritische Publizistik und Kunst zu betreiben. Gewappnet mit einer methodischen, interdisziplinären Vielfalt und kritischem Bewusstsein sollte es doch möglich sein, die Beschaffenheit von migrantischen Welten etwas differenzierter aufzuarbeiten. (Zoltán Péter, DER STANDARD, 19.9.2012)